Archiv für den Monat: Januar 2021

SOS für die Tideelbe – Kursänderung jetzt!

Hamburg und der Bund haben – auf der Grundlage höchstrichterlicher Rechtsprechung und erkennbar grob fehlerhafter Gefälligkeitsgutachten – begonnen, Hab und Gut von Menschen und die Lebensgrundlagen von Fauna in und Menschen an der Tideelbe schon heute, morgen und in großem Stil übermorgen zu vernichten oder zumindest massiv zu gefährden. Zwei wachsende Konflikte wurden fahrlässig ignoriert: Der Klimawandel mit Meeresspiegelanstieg erfordert Milliarden für zusätzlichen Küstenschutz. Die Elbvertiefung bewirkt das Gegenteil. Sie erhöht die Scheitelwasserstände zunehmender Sturmfluten und treibt die Baggerkosten bis 2040 wohl auf insgesamt über 3 Mrd. Die Absicht, Hamburgs Containerumschlag in 15 Jahren von 7,9 Mio. Standardcontainern (TEU) 2010 auf 25 Mio. 2025 etwa zu verdreifachen, ist durch neue Containerhäfen in Nord- und Südeuropa, d.h. völlig neue Wettbewerbsstrukturen, gescheitert. Denn in Wirklichkeit liegt der Containerumschlag seit langem unter 10 Mio. TEU p.a. – Zusätzlich droht Hamburg Unheil durch nicht mehr nachhaltig beherrschbare Mengen an Baggergut und die daraus erwachsende finanzielle Belastung. Wirtschaft und Politik der Tideelberegion geraten, durch Corona verschärft, unter Sanierungsdruck. Das zeigen der Schlicknotruf von HPA, die Umsatzeinbrüche und die Kooperationserwägungen von HHLA und Eurogate. Klares Umdenken ist ein Gebot der Stunde. Das belegen folgende Thesen in Kurzform (die ausführliche Begründung samt Quellen können Sie als Download bereits hier finden).

TEIL I  Hochwasserschutz und Sicherheit des Schiffsverkehrs zeigen große Defizite

These 1: Systematische Vorbereitung des Küstenschutzes auf Anstieg der Meeresspiegel wegen des Klimawandels wird durch Elbvertiefung (EV) ignoriert und beeinträchtigt.

These 2: Die laufende 9. Elbvertiefung verschärft die Hochwasser- und Sturmflutgefahr, obwohl diese entschärft werden müsste, was Gefälligkeitsgutachten verhindern.[1]

These 3: Grob fehlerhaftes Gutachten leugnet Gefährdung der Deiche durch Schiffswellen.[2]

These 4: Verkehr der Großcontainerschiffe auch nach Vertiefung nicht PIANC-konform sicher.[3]

TEIL II  Das Ökosystem Tideelbe ist bedroht durch Vernichtung von Lebensraum.

These 5: Zunahme des Tidal Pumping vernichtet das Ökosystem des Elbeästuars.

These 6:  Hamburgs Schlickdesaster darf nicht zu Lasten von Naturschutz und der Nachbarländer gelöst werden und dafür auch noch deren Zustimmung erhalten. Die Kosten der Unterhaltungsbaggerung für den Unterelbebereich und den Hamburger Hafen stiegen von 53 Mio. € 2011 – auf 150 Mio. € 2019[4], nach Vollendung der Elbvertiefung deutlich weiter steigend.

TEIL III  Deutsche Seehäfen ignorieren ihre Wettbewerbsnachteile und verpassen ihre Chancen.

These 7: Wirklichkeit widerlegt zu hohe Umschlagsziele und falsche Wirtschaftlichkeitsrechnung

2020: Bis zum 06.12. liefen 751 Containerschiffe ab 8.000 TEU Konstruktionsgröße Hamburg an (rd. 1.500 Passagen). Die ungenutzten Tiefgangsreserven betrugen durchschnittlich einlaufend 2,45 m, auslaufend 1,23 m. Ihre für die Elbe individuell zulässigen Maximaltiefgänge nutzten nur 75 Schiffe (10 % der anlaufenden Schiffe) und auch nur auslaufend (5 % aller Passagen), vollständig oder fast vollständig aus. Nur für sie hätte – auslaufend – die Elbvertiefung Vorteile geboten.

These 8: HWWI-Fazit: Hamburg sei von technologischem und ökonomischem Strukturwandel historisch zu nennenden Ausmaßes betroffen und brauche ein „Neues Hafenmodell“ [5]

These 9: Studien aus 2020 begründen, zur Überwindung seiner Verwundbarkeit benötigt Hamburgs Hafen unabhängig von partikularen Interessen mit hoher Priorität eine Kursänderung

  1. Die Integration der Hafenentwicklung in eine übergeordnete Strategie industrieller Transformation insbesondere in den Bereichen der digitalen und klimafreundlichen Industrie. (Vöpel)[6]
  2. Eine kluge Kooperation deutscher Containerhäfen zur Linderung deren Wettbewerbsdefizite (aus Lage-, Zeit- oder Kostennachteilen für Versender oder Empfänger) gegenüber Rotterdam und Antwerpen. Die ökologisch problematische Elbvertiefung erreiche das nicht. (Ordemann)[7]

These 10: An und in der Tideelbe ist für Menschen und Umwelt Schädliches zu unterlassen, d.h. die laufende Elbvertiefung ist auf ein sinnvolles Teilvorhaben, mit Verbreiterung der Begegnungsstrecken, zu begrenzen.

Die Argumente der Thesen 1-10 begründen unseren Appell an Bürger und Politiker der Tideelberegion und des Bundes, zu verhindern, dass ein sogenanntes „adaptives Sedimentmanagement“ als Folge einer unnötigen und unwirtschaftlichen Elbvertiefung unter dem Deckmantel von „Küstenschutz“ auf Kosten der Umwelt und der Bürger der Region durchgedrückt wird. Wir fordern für die Tideelbe mehr Aufmerksamkeit und verantwortungsvolle Beachtung der Zusage aus Absatz 358 des Entwurfs des neuen Grundsatzprogramms von Bündnis 90/Die Grünen: „Wertgeleitete Politik hat ihr Handeln konsequent auf … menschenrechts- und klimapolitisch kontraproduktive Wirkungen zu überprüfen und Schädliches zu unterlassen.“ Die akuten Schlickprobleme und die langfristigen Beeinträchtigungen und Kosten des Küstenschutzes, speziell der Deichsicherheit, erfordern, die Maßnahmen der 9. Elbvertiefung einzustellen und offensichtliche Fehlentwicklungen durch eine überfällige Kooperation deutscher Seehäfen zu überwinden.

Autoren:                                                                                                           Stade, 08.01.2021

Dr. Olaf Specht                                                                Ernst-Otto Schuldt

Exportkaufmann u. VWL-Prof. (FH) i.R.                  Nautiker, Wasserschutzpolizeibeamter i.R.

Mitunterzeichner: Axel Godenrath, Dipl.-Wirtschaftsingenieur, Bankkaufmann; Walter Rademacher, Wasserbauingenieur, Studiendirektor a.D.; Klaus Schroh, Kapitän, Schiffssicherheitsexperte für NABU Cuxhaven; Dirk Weber, Exportkaufmann

Diesen Text können Sie ->hier runterladen. Die Langversion dieses Appells mit Quellen und Erläuterungen zum Download finden Sie -> hier.

Quellenverzeichnis

[1] W. Rademacher, Experte für Wasserbau und Küstenschutz, in K. Hintz, E.-O. Schuldt, „WAHR SCHAU zur geplanten Elbvertiefung“, Norderstedt 2014, S. 86, 89 ff., 133 ff.

[2] ebenda, S. 133 ff.

[3] Klaus Schroh, Schifffahrtsexperte in „WAHR-SCHAU zur geplanten Elbvertiefung“, S. 38 -48, a.a.O.

[4] Auskunft WSV; Unterhaltungsbaggerung von Hamburger Hafen bis Elbmündung 06.12.2020

[5] H. Vöpel, HWWI, Die Zukunft des Hamburger Hafens, Determinanten, Trends und Optionen der Hafenentwicklung, Paper 123, 2020, S. 17

[6] ebenda, S.18

[7] Vgl. Prof. Dr. Frank Ordemann (Institut für Logistikmanagement – ILM), Deutsche Häfen verpassen Wettbewerbschancen – Studie zu den verpassten Chancen der deutschen Containerseehäfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit in der Hamburg-Antwerpen-Range zu behaupten, Salzgitter 2020